Ferdinand von Schirachs Geschichten in den Büchern „Schuld“ und „Verbrechen“ gehen mir nicht mehr aus dem Kopf. Doch es ist nicht das Kriminelle, das mich daran fasziniert, sondern die Haltung des Strafverteidigers und Autors, sein Blick auf die Menschen.

Wo Literatur sonst Handlungen mit Motiven und Gefühlen unterlegt, bewertet, würdigt oder kritisiert, pflegt von Schirach Distanz. Er interpretiert nicht. Er erzählt nicht trivial von Ursache und Wirkung, sondern beschreibt seine Figuren immer in ihrem „Heimatsystem“. Das zu verstehen oder gar mit eigenen Maßstäben zu bewerten, maßt er sich nicht an.

Keine Spekulationen! Dieses Enthaltsamkeits-Motto des Juristen hat sehr viel mit Coaching zu tun. Schirachs Blick auf „das, was ist“ ist vorbildlich für die Haltung eines Coaches. Das Ausblenden seiner eigenen „inneren Landkarte“ macht die Stories von kleinen Ganoven und großen Verbrechern so faszinierend.

„Die Dinge sind, wie sie sind“, zitiert Schirach in „Schuld“ Aristoteles. In „Verbrechen“ gibt der Physiker Werner Heisenberg den Ton vor: „Die Wirklichkeit, von der wir sprechen können, ist nie die Wirklichkeit an sich.“

Im Fachjargon würde man diese Sicht auf die Welt als radikal „konstruktivistisch“ bezeichnen, als Reaktion auf die Einsicht, dass sich jeder Mensch sein eigenes Bild von der Welt und anderen Menschen macht. „Man kann den Leuten immer nur VOR den Kopf gucken“, würde meine Oma dazu sagen. Recht hat sie.