Was entscheidet über die Leistungsfähigkeit und den Erfolg eines Teams? Fähigkeiten oder perfekte Prozesse? Motivation und Gehälter? Es ist nichts von alledem.

Studien der letzten Jahre beweisen: Der lange unterschätzte Erfolgsfaktor im Team ist eine komplexe Eigenschaft, die als Psychologische Sicherheit (Psychological Safety) beschrieben wird.

In diesem Text beschreibe ich zunächst den Erfolgsfaktor Psychologische Sicherheit und worin diese besteht. Am Ende findest Du einen Test, den Du selbst machen kannst, um mit elf Fragen deine eigene Wahrnehmung von Psychologischer Sicherheit in deinem Team einzuordnen.

Teil 2 der Blogserie wirft einen genaueren Blick auf Kommunikation und Psychologische Sicherheit.
Teil 3 geht dann näher auf Agilität und neue Formen der Zusammenarbeit und Psychologische Sicherheit ein.

Definition: Was ist Psychologische Sicherheit?

Die Harvard-Professorin Amy C. Edmondson definiert Psychologische Sicherheit als: „Eine vertrauensvolle Atmosphäre, in der alle Teammitglieder sich offen äußern können, ohne beschämt, abgewiesen oder sonst wie negativ sanktioniert zu werden.“ 


“Psychological safety is a belief that one will not be punished or humiliated for speaking up with ideas, questions, concerns or mistakes.” 

„Psychologische Sicherheit bedeutet das Fehlen zwischenmenschlicher Angst“, beschreibt Edmondson in ihrem Buch „Die angstfreie Organisation“ das Phänomen. „Wenn psychologische Sicherheit vorhanden ist, können sich Menschen mit arbeitsrelevanten Inhalten zu Wort melden.“ Da liegt es nahe, dass Führungskräfte einen sehr großen Einfluss auf dieses Merkmal haben. Sie sind aber nicht allein entscheidend.

Psychologische Sicherheit gibt es nur als gemeinsame Eigenschaft

Psychologische Sicherheit gibt es nur gemeinsam. Das ist keine individuelle Eigenschaft wie zum Beispiel Selbstbewusstsein, sondern das Merkmal einer Gruppe. Denn dieses Merkmal setzt sich aus einem gemeinsamen Erleben grundsätzlicher Wertschätzung, Offenheit, Nahbarkeit, Vertrauen und Feedback-Fähigkeit zusammen.

Viele Studien der letzten Jahre (von der Harvard-Professorin Edmondson über Google bis hin zu McKinsey) haben sich in den letzten Jahren mit den Rahmenbedingungen für Team-Performance beschäftigt. Sie alle kamen zu dem Ergebnis: Teams mit hoher psychologischer Sicherheit entwickeln die höchste Leistungs- und Innovationskraft. Diese Teams können besser mit Komplexität und Veränderungen umgehen. Sie sind auch die Teams, denen Menschen gerne angehören möchten, weil sie über hohe integrative Fähigkeiten verfügen.

Es reicht eben nicht, viele talentierte Leute zusammen zu bringen. Sie müssen auch gut zusammenarbeiten können. Wer schon einmal in einem besonders „sicheren“ Team gearbeitet hat, wird wissen: Das ist ein besonderer Schatz! Und wer seine Tage in einem „Klima der Angst“ verbringt, kann viele Geschichten erzählen, wie sich das sowohl auf das eigene Wohlbefinden als auch auf die Lösungs- und Leistungsfähigkeit eines Teams auswirkt.

In vielen Jahren als Coach und Begleiterin von Teams und Organisationen habe ich selbst erlebt, wie stark dieser Faktor die Kooperation und Performance eines Teams limitieren oder auch beflügeln kann. Dabei ist klar, dass die Saat für Psychologische Sicherheit von Führungskräften gelegt wird. Sie geben den Ton an und prägen die Kommunikationsmuster in ihrem Umfeld.

Das Thema kommt endlich raus aus der „Soft Skill“-Ecke

Die heute vorliegenden Erkenntnisse über Psychologische Sicherheit ermöglichen es endlich, diese Themen aus dem so genannten „Soft Skill“-Bereich als zentrales Element von Führung und Zusammenarbeit zu etablieren. Das gilt auch für alle Formen des New Way of Working, für agile, selbstorganisierte oder kollegial geführte Teams.

Edmondson hat selbst viel in Krankenhäusern geforscht. In ihrem Buch schildert sie ihren Aha-Moment bei der Beobachtung von verschiedenen Klinik-Teams. Dabei hat sie festgestellt, dass in dem Hierarchiegeflecht zwischen Ärzt:innen und Pfleger:innen, Patient:innen und Angehörigen die Qualität der Behandlung und Pflege davon abhängig ist, ob die Kommunikationen innerhalb dieses Systems von Wertschätzung, Offenheit und Vertrauen geprägt sind.

Zentral in der von ihr entworfenen angstfreien Organisation ist der begriff „Verletzlichkeit“: Damit beschreibt sie den Mut von Führenden, eigene Fehler zuzugeben, und sich nahbar zu zeigen (anstelle von Distanz und Dominanz).

Nach Edmondsons Studien ist psychologische Sicherheit kein kuscheliger Feelgood-Faktor. Sie ist maßgeblich für die Arbeitsqualität und die Entwicklungs- und Lernfähigkeit eines Teams. Edmondson erweitert den Fokus vom Klinikumfeld auf die ganze wissensbasierte Wirtschaft: „Fast alles, was wir in der modernen Wirtschaft wertschätzen, ist das Ergebnis von Entscheidungen und Handlungen, die voneinander abhängig sind und deshalb von effektiver Teamarbeit profitieren.“ Psychologische Sicherheit „ist eine entscheidend wichtige Quelle der Wertschöpfung in Organisationen, die in einer komplexen, veränderlichen Umgebung arbeiten“.

Google-Studie: Psychologische Sicherheit macht den Unterschied

Was macht Teams effektiv? Das hat sich auch der Digital-Konzern Google/Alphabet gefragt, der sich seit Jahren in einer hoch komplexen, dynamischen und veränderlichen Marktumgebung bewegt. Um Teams genauer zu untersuchen, hat Google 2016  das „Project Aristotle“ gestartet. Das Forschungsprojekt wurde nicht grundlos nach dem griechischen Philosophen Aristoteles benannt. Denn von dem stammt der Satz, der auch heute noch zum Repertoire systemischen Denkens gehört: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.“

Bei dem internen Befragungsprojekt von 180 Teams bei Google kamen fünf Faktoren heraus, die ein Team so richtig brummen lassen. Vier von den fünf Faktoren überraschen wenig:  Es sind bei Google „klare Ziele“, „verlässliche Kolleg:innen“, eine „sinnstiftende, bedeutungsvolle Arbeit“ und die „Überzeugung, dass die eigene Arbeit Wirkung entfaltet“. (Abb. Google)

Doch der entscheidende Unterschied in der Leistungsfähigkeit von Teams ergab sich in der Praxisstudie von Google aus der Qualität der Psychologischen Sicherheit, die Teammitglieder mehr oder weniger bewusst erleben.

Google beschreibt den Top-Faktor so: „Team members feel safe to take risks and be vulnerable in front of each other”. Die Menschen in einem Team sind dabei „zuversichtlich, dass niemand im Team andere in Verlegenheit bringen oder bestrafen wird, wenn sie einen Fehler eingestehen, eine Frage stellen oder eine neue Idee anbieten”. Also eine Zusammenarbeit ohne Bossing, Bashing, Dissen, Shaming, Mobbing…

Abbildung: Google re:work / Psychological Safety / Psychologische Sicherheit 

Psychologische Sicherheit ist ein Merkmal des Teams – nicht eines Einzelnen

Bei allen Studien über Psychologische Sicherheit wird klar: Sie ist ein Merkmal oder eine Eigenschaft eines Teams oder einer Gruppe. Es kommt nicht darauf an, dass zum Beispiel alle Leute im Projekt ein selbstsicheres, robustes Ego vor sich hertragen. Die Magie der Psychologischen Sicherheit entsteht in der Interaktion auch der unterschiedlichsten Charaktere mit den jeweils Führenden und innerhalb des Teams.

Karolin Helbig und Minette Norman beschreiben den Effekt in ihrem “Psychologial Safety Playbook” als “essenzielle Nährstoffe, Vitamine und Mineralien für die Entwicklung eines gesunden Teams”.

Wenn sich einzelne Menschen darauf verlassen können, dass ihnen die anderen in der Gruppe und ihre Führungskräfte mit einer wertschätzenden Grundhaltung und Offenheit und Toleranz begegnen, fördert das nicht nur die Effizienz- und Innovationsfähigkeit eines Teams. Diese Eigenschaft unterstützt auch Resilienz in schwierigen Zeiten, Motivation, Leistungsbereitschaft und das Engagement für Entwicklung und Lernen.

Unabhängig von „steilen“ oder „flachen“ Hierarchien

Diese Kultur des produktiven Wohlbefindens und Herausforderns kann nach meiner Beobachtung unabhängig von formal „steilen“ oder „flachen“ Hierarchien entstehen. Psychologische Sicherheit lässt sich sowohl in einer klassischen Führungskultur erleben als auch in einem agileren oder kollegial selbstorganisierten Umfeld.

Allerdings leiten mich zwei Beobachtungen dazu:

1. Je ausgeprägter und autoritärer Hierarchie gelebt wird, desto unmittelbarer wirkt sich das Verhalten einzelner Führungskräfte auf die Psychologische Sicherheit aus. Und desto schwieriger lassen sich angsterzeugende Kommunikationen gemeinsam bearbeiten.

2. Je agiler und selbstorganisierter ein Team arbeitet, desto wichtiger wird der bewusste Blick auf Psychologische Sicherheit, damit Verantwortungen und Rollen angstfrei übernommen werden. In diesem Umfeld kann ein Team selbst bewusst und aktiv an seiner Psychologischen Sicherheit arbeiten. (Mehr dazu im 3. Teil der Blogserie).

Ein kurzes Beispiel für die These 1:
In einem Coaching sagt mir ein Kunde, dass er das Verhalten eines Vorgesetzten „nicht mehr aushalten kann“. Auf meine Frage, ob er dieser Person denn schon mal eine Rückmeldung zu seinem Verhalten gegeben hätte, kam die Antwort: „Das hat eh keinen Sinn. Das macht es nur schlimmer. Dann suche ich mir lieber einen neuen Job.“ (Was dann auch Ergebnis des Coaching-Prozesses war.)

Ein kurzes Beispiel für These 2:
In einem Konzern habe ich zwei agile Teams erlebt, die auf einer Etage mit ähnlichen Aufgaben nebeneinander arbeiteten und sehr unterschiedlich erfolgreich waren. Die Kolleg:innen des einen Teams, das sich selbst als „schwieriger, diverser Haufen“ beschrieb, schauten voller Neid und Sehnsucht auf das Nachbarteam, das sie als „Insel der Seligen“ erlebten. Bei genauem Hinschauen unterschied sich das „schwierige“ Team vor allem im Punkt Psychologische Sicherheit von dem anderen und konnte die Situation dann auch aus eigener Kraft deutlich verbessern.

Kein ängstliches Befolgen von Regeln aus Angst vor Abwertung

Psychologische Sicherheit bedeutet nicht, dass alle immer miteinander kuscheln müssen oder mit einer besonders „woken“ Sprache auf alle Sensibilitäten Rücksicht nehmen. In Psychologischer Sicherheit können unterschiedliche Meinungen auf harte Entscheidungen treffen und Spannungen offen geklärt werden. Nur erhöht sich dabei die Wahrscheinlichkeit, dass das Ringen um Lösungen wahrhaftig und effektiv ist – und zu besseren Ergebnissen führt als das stumme Abnicken von Machtworten oder das Befolgen von Regeln aus Angst ausgegrenzt oder abgewertet zu werden.

Psychologische Sicherheit entsteht nicht per Dekret sondern im Dialog

Systemisch gesehen ist Psychologische Sicherheit das Ergebnis aller Kommunikationen innerhalb einer Gruppe. Der US-Autor Timothy R. Clark bezeichnet das als „kollaborativen Dialogprozess“. Dialogfähigkeit kann nicht von Einzelnen „erzeugt“ werden, sondern entsteht im komplexen Kommunikationsgeflecht des Teams. Damit ist Psychologische Sicherheit ein Kulturthema, eng gekoppelt an oft verdeckte Haltungen und Werte. Eine entscheidende individuelle Grundhaltung lässt sich in dem Leitsatz der Transaktionsanalyse auf den Punkt bringen: „Ich bin okay! Du bist okay!“

Natürlich sind Führungskräfte oder Menschen mit besonders verantwortungsvollen Rollen in einem Team wesentlich daran beteiligt, ob Psychologische Sicherheit wächst oder verkümmert. Doch jedes einzelne Teammitglied leistet einen Beitrag dazu. Und agile, kollegial geführte oder selbstorganisierten Teams mit eng vernetzter Kooperation erleben sich als „direkt blockiert“ und „voll angespannt“, wenn es an Sicherheit in den Kommunikationen, Diskussionen und beim Feedback mangelt.

Test zum Abschluss: Welchen Grad von Sicherheit erlebst du in Deinem Team?

So, und nun kannst Du selbst einschätzen, wie Du die Psychologische Sicherheit in Deinem Team erlebst. Der Fragebogen (Abb.) führt in verschiedene Detailbereiche der Beziehungen und Kommunikationen.

Du kannst diesen Fragebogen auch zur Selbstreflexion nutzen, um eventuell Muster in deiner eigenen Kommunikation zu erkennen und zu verändern. Das ist besonders interessant, wenn Du eine führende Rolle hast.

Dabei wäre dann die Leitfrage: „Was habe ich gesagt oder getan, das bei anderen möglicherweise eine angstvolle oder selbstbeschränkende Reaktion auslösen kann?“

Karin Volbracht – Fragebogen Psychologische Sicherheit/Psychological Safety

(Für Experten: Es gibt einen Fragenbogen als PsySafety-Check, der auf einem Test von Amy C. Edmondson basiert. Ich persönlich finde den Check schwierig auszuwerten, weil einige Fragen direkt mit positiven Erfahrungen verbunden sind und andere mit negativen.)

Du kannst diese Einschätzung mit dem Fragebogen auch im Team vornehmen. Doch denkt bitte vorher darüber nach, wie ihr gemeinsam mit den Ergebnissen umgeht! Denn genau dieser Moment kann zu einer größeren Unsicherheit mit Schuldzuweisungen und Vorwürfen nach den gewohnten Kulturmustern führen.


Wenn Du Fragen dazu hast oder ich Dich und dein Team bei dem Thema unterstützen kann, schreib gern einfach eine Mail an karin@coaching-volbracht.de.

Im zweiten Blogpost zum Thema beschäftige ich mich damit, warum Psychologische Sicherheit für den Erfolg in agilen oder selbstorganisierten Teams wichtiger sein kann als sauber umgesetzte Prozesse, Methoden und Tools.